Millionen fürs Tierwohl

Das gibt es so nur, wenn es nicht um die Milch geht: Eine Kuh mit ihrem halbwüchsigen Kalb auf der Weide. Milchkühe werden meist nach spätestens drei Tagen von ihren Kälbern getrennt. Auch das soll sich ändern bei der Bauerngemeinschaft Hamfelder Hof. | Foto: Florian Schwinn

Vor einiger Zeit habe ich hier im Blog und im Podcast eine Bauerngemeinschaft vorgestellt, die sich aufgemacht hat, ihre eigene Agrarwende zu gestalten: die Bauerngemeinschaft Hamfelder Hof. Milchviehbetriebe in Norddeutschland, die vor Jahren ihre eigene Bio-Molkerei gegründet haben und sich jetzt daran machen, in die Zukunft der Tierhaltung zu investieren. Die Bäuerinnen und Bauern haben sich ihre eigenen Vorgaben erarbeitet, die weit über das hinausgehen, was der Bioland-Verband, dem sie angehören, von seinen Mitgliedsbetrieben fordert. Sie wollen den Weidegang der Kühe ausweiten, das Platzangebot im Stall fast verdoppeln, die Kälber nicht mehr von ihren Müttern trennen und auf ihren Flächen den Naturschutz und die Biodiversität voranbringen. Um das alles zu finanzieren, hat die Meierei Hamfelder Hof ihren Milchpreis um zwanzig Cent erhöht. Und – oh Wunder – die Supermärkte und Bioläden im Lebensmittelbilligland haben das tatsächlich mitgemacht. Und deren Kundinnen und Kunden auch. Offenbar stimmt es doch, dass wir bereit sind, für mehr Tierwohl auch mehr zu zahlen.

Was ich damals schon angekündigt hatte, dass ich diese Bäuerinnen und Bauern gerne begleiten möchte auf ihrem Weg in die Zukunft, das beginne ich heute: Ich stelle einen Hof genauer vor, und wir schauen auf das gewaltige Umbauprojekt, dass sich eine Bauernfamilie da vorgenommen hat. Sie steht hier für alle anderen derzeit 38 Höfe der Bauerngemeinschaft, bei denen ähnlich Großes angegangen wird.

Neubauprojekt Milchvieh

Der Hof der Familie Tams liegt außerhalb des Dorfes Ausacker in der welligen Landschaft der Ostsee-Halbinsel Angeln südlich von Flensburg. Von hier aus besiedelten die germanischen Angeln im fünften Jahrhundert Großbritannien. Nach ihnen benannt sind auch die urigen Angler-Sattelschweine und das Angler Rind, auch Deutsches Rotvieh genannt. Rot sind dann auch die Kühe im Stall und auf den Weiden der Familie Tams, einige auch rot-bunt, also mit ein paar weißen Flecken.

Die Angler sind eine robuste Rinderrasse, die sich an wechselnde klimatische Bedingungen gut anpasst. Die Kühe sind nicht so schwer wie die der nur auf Milchleistung gezüchteten Tiere, weshalb sie auch an nassen Tagen raus können auf die Weiden, ohne die ganz schwarz zu trampeln. Wenn der Winter allerdings so ist, wie der gerade vergangene, dann steht auf den Weiden das Wasser kurz unter der Grasnarbe. Und dann müssen auch die Anglerkühe der Tams noch ein wenig warten, bis es hinausgeht. Dann leben die 150 Kühe im Laufstall. Der ist geräumig, die Kühe haben mehr Platz als in konventioneller Haltung. Und er ist doch zu klein.

Johannes Tams im alten Kuhstall, aus dem die Kühe bald verschwinden sollen. Für sie wird neu gebaut: mehr Platz im Stall, ständiger Auslauf draußen, automatisiertes Melken und ebensolcher Weidegang. | Foto: Florian Schwinn

Die Bauerngemeinschaft Hamfelder Hof hat sich selbst auferlegt, den Kühen im Stall zwei Drittel mehr Platz zu bieten und zusätzlich einen jederzeit zugänglichen Ausgang ins Freie, einen Laufhof. Und das, obwohl Bioland das gar nicht vorschreibt, wenn die Tiere regelmäßig auf die Weide kommen. Am Ende werden die Kühe der Tams dann im Stall und auf dem Laufhof deutlich mehr als doppelt so viel Platz haben, wie die von Bioland und Öko-Verordnung vorgeschriebenen sechs Quadratmeter.

„Wir können den vorhandenen Laufstall aus statischen Gründen aber nicht vergrößern“, sagt Johannes Tams und stellt fest: „Also müssen wir neu bauen!“ Der neue Kuhstall soll direkt hinter den alten gebaut werden. Dort ist viel Platz, der allerdings für die Fahrsilos mit dem Futter genutzt wird. Also müssen die dort weichen? „Die müssen weg!“

Wir gehen über den Hof, an den Silos vorbei, um einen Kälberstall herum – und stehen vor einem Neubau aus dem vergangenen Jahr, einem riesigen Gülletank. „Er ist doppelt so groß, wie er aussieht“, sagt Johannes Tams, weil die drei Meter über der Erde nur die Hälfte der Höhe sind. Der Rest steckt im Boden. Da hinein sollen in Zukunft nicht nur Urin und Kot aus den Ställen, sondern auch das Abwasser von den geplanten Laufhöfen für Kühe und Jungtiere, und das Sickerwasser aus den Fahrsilos. Alles, was in neun Monaten anfällt, muss da hineinpassen, sagt die Vorschrift. Das sind die ersten 260.000 Euro, die die Familie Tams in die Zukunft ihrer Milchviehhaltung investiert hat. Vor den neuen Gülletank sollen die neuen Fahrsilos gebaut werden. Kostenvoranschlag: 150.000 Euro.

So beginnt der Umbau: Der riesige neue Gülletank, der den aktuellen Abwasservorschriften entspricht und auch das Oberflächenwasser der geplanten Laufhöfe der Kühe und Kälber aufnehmen soll. | Foto: Florian Schwinn

Und dann kommt der ganz große Brocken: der neue Kuhstall. Auch hier ist die erste Entscheidung schon gefallen: „Wir werden in Zukunft mit Robotern melken“, sagt Johannes Tams, und erklärt auch gleich, warum: „Wir bekommen keine Arbeitskräfte mehr. Es gibt immer weniger Menschen, die einen Bezug zur Landwirtschaft haben, und die melken wollen.“ Zurzeit haben die Tams für die Hälfte der täglichen Melkerei Arbeitskräfte eingestellt. Und die wird es, so ahnen sie, in Zukunft nicht mehr geben, egal wie gut sie bezahlt werden. Also werden im neuen Stall zwei Melkroboter stehen. Erfahrungsgemäß lernen die Kühe sehr schnell, dass sie dort ihre Milch loswerden können. Baukosten für Stall und Roboter – gut 1,2 Millionen Euro.

Die Kühe sollen dann in Gruppen aufgeteilt werden, die zu unterschiedlichen Zeiten auf die Weiden gehen. Die Weidezeit soll ausgeweitet werden, von vier Uhr früh bis elf in der Nacht. Welche Kuh wann mit welcher Gruppe hinaus kann, regelt die Elektronik in den Toren. Da die Kühe ohnehin ein Halsband tragen, dass sie individuell erkennbar macht, derzeit für die Melkmaschine, später für die Melkroboter, können auch die später dann elektronisch geregelten Tore im Laufstall jede Kuh erkennen. „Kühe sind viel besser ausgestattet für das Leben da draußen, als wir“, sagt Johannes Tams, „die sehen gut im Dunkeln und sie frieren nicht. Nur große Hitze und viel Sonne mögen sie nicht.“ In Zukunft sollen die Kühe dann selbst entscheiden können, ob sie an heißen Sommertagen doch lieber im Stall sind, als auf der Weide.

Dazu muss auch das Land umgebaut werden. Die Weideflächen sollen möglichst alle um den Hof liegen, so dass die Kühe möglichst ohne menschliche Aufsicht die gerade für sie vorgesehenen Koppeln erreichen können. Die Äcker können dann auf die weiter vom Hof entfernten Flächen weichen.

Kuhgebundene Kälberaufzucht

Wenn der neue Stall steht, können die Kühe umziehen. Dann wird aus einer Seite des bisherigen Kuhstalls einer für Jungtiere. Drei Altersgruppen sollen es werden mit je eigenen Laufhöfen draußen. Für die Laufhöfe muss der Gemüsegarten weichen. Die andere Seite des alten Kuhstalls wird teilweise abgerissen, um dort eine neue Halle anzubauen, die dann das ganz große neue Projekt der Bauerngemeinschaft aufnehmen soll: die kuhgebundene Kälberaufzucht.

Wer sich mit der Milchviehhaltung nicht schon etwas ausführlicher befasst hat, dürfte jetzt denken: Was ist das? Ist das nicht normal, dass die Kühe die Kälber aufziehen? Nein, ist es nicht.

Normalerweise werden Mutterkuh und Kalb direkt nach der Geburt oder nach maximal drei Tagen getrennt. Die erste Milch der Mutter ist für die Kälber sehr wichtig, weil die sogenannte Biestmilch ihr Immunsystem hochfährt. Das ist aber nach drei Tagen passiert. Danach werden die Kälber normalerweise mit dem Nuckeleimer großgezogen. Eine Normalität, die mit der Natur der Sache nichts zu tun hat, dafür umso mehr mit der sogenannten rationalen Milchviehhaltung. Der Begriff hat nichts mit der Vernunft zu tun, umso mehr mit der Rationalisierung der Arbeitsabläufe.

Weil das, was die Bauerngemeinschaft Hamfelder Hof jetzt einführen will, so unüblich ist, musste dafür eine neue Begrifflichkeit her: muttergebundene oder ammengebundene oder kuhgebundene Kälberaufzucht heißt das seit ein paar Jahren, oder auch adulte Kälberaufzucht. Die ersten zwölf Wochen sollen die Kälber in Zukunft bei den Müttern bleiben. Nach drei Monaten ist ein Kalb dann schon kein Kleinkind, eigentlich auch gar kein Kind mehr, sondern eher ein Jugendlicher.

Johannes Tams ist mit seinem Sohn, der Hof und Schulden übernehmen wird, in letzter Zeit viel gereist – zu den Höfen, die sich bereits mit der kuhgebundenen Kälberaufzucht beschäftigt haben. Dabei haben die beiden gelernt, dass es kein System gibt, das sie einfach übernehmen können. Es gibt kein Rezept für die Aufzucht mit den Müttern.

So soll es werden: Die Kälber sollen drei Monate lang von ihren Müttern oder Adoptivmüttern aufgezogen werden bei der Bauerngemeinschaft Hamfelder Hof. | Foto Anthony Scanlon

Manche Höfe halten eine kleine Ammenherde aus Kühen, die nicht mehr gemolken werden, sondern nur noch Kälber aufziehen. Aber auch die müssen natürlich regelmäßig selber kalben, damit sie überhaupt Milch geben. Manche Höfe melken die Mutterkühe weiter, denn eine heutige Milchkuh hat viel zu viel Milch für ein einzelnes Kalb. Und diese Milch muss die Kuh loswerden können. Ist aber nicht so einfach, wie es klingt, denn damit die Milch fließt, muss im Gehirn der Mutter das Hormon Oxytozin produziert werden. Und dessen Produktion hat ja gerade schon das Kalb initiiert. Wenn das satt ist, ist kein Hormon mehr übrig, dass Melker und Melkmaschine mit Zuneigung versorgen könnte. Dann heißt es warten.

Johannes Tams tendiert dazu, eine Mischung aus Mutter- und Ammenaufzucht zu probieren. Er weiß aus dreißig Jahren Erfahrung, dass es auch unter Kühen Helikoptermütter gibt, die sich nur um ihr eigenes Kalb drehen. Die würden, wenn sie ihr Kalb aufziehen dürften, sehr schnell am Euter erkranken, weil sie zu viel Milch haben. Und den Kälbern geht es bei so viel Fürsorge auch nicht wirklich gut. Um so etwas zu vermeiden, sich aber gleichzeitig keine Ammenherde halten zu müssen, will Johannes Tams die „guten Mütter“ in seiner Kuhherde finden. „Das sind gelassene Kühe, die nach den ersten drei Tagen auch fremde Kälber nuckeln lassen“, sagt er. „Und welche Kühe das sind, das findet man auch in diesen ersten Tagen heraus.“ Diesen Müttern will er dann noch zwei oder auch mal drei Kälber „zur Adoption“ geben, sie aber dann nach drei Monaten wieder in die Kuhherde integrieren, also nicht auf Dauer zur Amme machen.

Investition Zukunft

„Unser Alltag wird sich sehr verändern“, sagt Johannes Tams, „denn die kuhgebundene Kälberaufzucht ist kein einfacher Weg. Die Mütter und die Kälber brauchen mehr Aufmerksamkeit als im bisherigen System. Wir müssen viel mehr Zeit in die Tierbeobachtung stecken, als bisher.“ Auch deshalb soll die Laufhalle für Mütter und Kälber nah am Wohnhaus der Tams gebaut werden. Dann kann jeder, der gerade etwas Zeit hat, die bei den „kleinen Familien“ verbringen, wie Johannes Tams die Kleingruppen aus Müttern, ihren Kälbern und den Adoptivkindern nennt.

Aber auch sonst wird sich viel ändern bei der Familie Tams. Wenn ihr großes Projekt dasteht, werden sie gut zwei Millionen Euro neue Schulden haben. Es wird wohl mehr als zwanzig Jahre dauern, bis das abgezahlt ist. Eine langfristige Bindung für die nächste Generation auf dem Hof.

Aber nicht nur deshalb durchlebt Johannes Tams gerade eine schwierige Zeit. „Wer weiß denn“, sagt er, „was in zwanzig, dreißig Jahren der Liter Milch kosten wird, wer weiß, wie weit uns die zwanzig Cent mehr pro Liter für unsere Biomilch bringen werden?“ Und wer weiß, wie wir in zwanzig Jahren über das Tierwohl denken? „Wenn wir jetzt so viel in das Tierwohl investieren“, sagt er, „dann können wir nicht ständig umdeuten, was Tierwohl denn sei. Dann ist das Geld verbaut und auf dreißig Jahre definiert, was Tierwohl für Kühe und Kälber bedeutet. Damit müssen wir dann erst einmal leben, auch die Verbraucherinnen und Verbraucher.“

Das meinen die Bäuerinnen und Bauern immer, wenn sie von Planungssicherheit sprechen: Der Vertrag den die Gesellschaft mit ihnen abschließt, den wir alle mit ihnen eingehen, wenn wir die Agrarwende wirklich wollen, dieser Vertrag muss mindestens die nächsten dreißig Jahre stehen. Nur wenn wir uns darauf einlassen, haben wir eine Chance, mit der Landwirtschaft unsere Ernährung zu sichern und gleichzeitig biologische Vielfalt und Klima zu retten. Ob das gelingt, entscheidet jede und jeder von uns jeden Tag mit – beim Einkaufen!


Mehr dazu gibt’s im Podcast > hier