Bio von Anfang an / Teil 1

Die Züchterin und ihre Pflanzen. Christina Henatsch von Kultursaat e.V. in einem ihrer Gewächshäiser auf Gut Wulfsdorf bei Hamburg. | Alle Fotos: Florian Schwinn

Der Begriff Hybride stammt vom lateinischen Wort hybrida. Es bedeutet Mischling und ist, wenn man es auf Menschen anwendet, wohl rassistisch gemeint. Nicht so bei Pflanzen oder Tieren. Aber Achtung: Das lateinische Wort hybrida wiederum stammt vom griechischen hybris, also vom Hochmut, der bekanntlich vor dem Fall kommt. Wenn das so stimmt, sind wir mit unserer Ernährung äußerst hochmütig, denn Hybriden sind inzwischen der Normalfall im Einkaufskorb. Und der tiefe Fall ist auch schon eingetreten, denn das Zeug, was wir essen, schmeckt nicht mehr. Und womöglich macht es sogar krank.

Ende des etymologischen Ausflugs in die Wortgeschichte und Anfang einer Geschichte über unsere Ernährung mit Hybriden, oder vielmehr besser: ohne sie. Bei „Bio von Anfang an“ geht es um unsere Nutzpflanzen, um die Herkunft unseres täglichen Brotes und unseres Gemüses.

Das ist ein großes und komplexes Thema und ich sage deshalb gleich von Anfang an dazu: Dies ist Teil eins einer Miniserie. Hier geht es um die biologische Pflanzenzucht, die auch innerhalb des Biomarktes noch eine Nische ist, weil auch die Biobauern und -gärtner noch von den Saatgutkonzernen abhängig sind. Im zweiten Teil geht es dann um die Verwerter und Händler des Biogemüses.

Bio ab Saatgut

Wir starten auf Gut Wulfsdorf, nordöstlich von Hamburg im schleswig-holsteinischen Ahrensburg. Im Besitz des Bundeslandes Hamburg ist das Staatsgut seit 1989 an den Ökobauern Georg Lutz verpachtet, der daraus einen biodynamischen Vorzeigebetrieb gemacht hat. Auf 280 der 350 Hektar Fläche des Gutes werden Getreide- und Futteranbau betrieben. Auf zwanzig Hektar wird Gemüse angebaut, was übrigens für eine Gärtnerei riesig ist, und auf einem Hektar wird gezüchtet.

Hier wurden schon Nutzpflanzen für die Zucht selektiert, lange bevor das Gut ein Demeter-Betrieb wurde. Hier machte der Pflanzengenetiker und -züchter Reinhold von Sengbusch aus einer einfachen Forschungsstelle das Max-Planck-Institut für Kulturpflanzenzüchtung. Hier wurde die Süßlupine von der Wildpflanze zur Kulturpflanze und damit für die menschliche und tierische Ernährung erschlossen, und hier entstand die weltberühmte Erdbeersorte Senga Sengana. Die war mal die vorherrschende Sorte, zumindest im Norden.

Hamburger Staatsgut in Schleswig-Holstein: Gut Wulfsdorf in Ahrensburg, seit 1989 Demeter-Betrieb und schon viel länger Standort der Nutzpflanzenzucht.

Heute entstehen hier in biodynamischer Zucht samenfeste Nutz-pflanzen für die Biolandwirtschaft. Samenfest heißen sie deshalb, weil sie jederzeit und von jedermann nachgebaut werden können, also vermehrt und neu ausgesät. Sie sind das Gegenteil von den Hybriden, die die Saatgutkonzerne anbieten. Die sind zum Teil steril und müssen von den Gärtnern und Bauern jedes Jahr nachgekauft werden. Das genau wollten die Biobauern nicht, erzählt mir Hofgründer Georg Lutz.

Die eigenständige Zucht von Biosaatgut habe angefangen, als klar wurde, dass immer mehr Abhängigkeiten von den Saatgutkonzernen entstanden. „Das sind ja Strukturen, die wir so gar nicht wollen.“ Woraus die Idee entstand, etwas Eigenes zu machen. „Dazu kam natürlich auch, dass die konventionellen Sorten immer weniger für den Bioanbau taugten.“

Krank gezüchtet

Georg Lutz erklärt das am Beispiel Weizen. Der wurde immer kürzer gezüchtet, weil immer mehr Dünger zu immer mehr Ertrag führen sollte. Die industrielle Züchtung determinierte sich selbst: „Der viele Dünger führte zu einer Aufweichung des Gewebes, also musste der Halm kürzer um dicker werden, um die gleichzeitig wachsende Ähre tragen zu können.“

Dadurch kam das Korn näher an den Boden und wurde anfälliger für Pilze. Also musste mehr gegen Pilzbefall gespritzt werden. Gleichzeitig wurden weitere Spritzmittel angeboten, die den Halm des Getreides weiter verkürzen. Die Agrarchemie schafft sich ihre eigenen Notwendigkeiten. „Das“, sagt Georg Lutz, „war der Punkt, wo wir wussten, dass wir eigene Pflanzensorten brauchen.“ Er sagt das, wie ein biodynamischer Bauer das sieht: „Sie haben aus einem im Licht stehenden Korn eine Erdpflanze gemacht.“ Und das kann nicht gut gehen. Nicht für einen Demeter-Bauern.

Und wohl auch sonst nicht. Es geht auch nicht gut, denn was bedeutet es, wenn eine Pflanze an Pilzen erkrankt? „Pilze sind ja im Naturreich immer da tätig, wo etwas Lebendiges nicht mehr ganz so lebendig ist“, sagt Georg Lutz. Und wer will kranke Pflanzen aufziehen? Wer will sie essen?

Wenn es blüht, müssen die Türen der Gewächshäuser geschlossen gehalten werden, damit die Zuchtpflanzen nicht von außen fremdbestäubt werden. Hofgründer Georg Lutz führt durch die Gewächshauslandschaft.

Samenfest oder Hybrid

Wenn es um andere Pflanzen geht, die die Biobauern brauchen, dann geht es bei Getreide und Gemüse auch um den Unterschied zwischen den samenfesten Sorten und den Hybriden, die aus zwei wenig oder gar nicht miteinander verwandten Pflanzen künstlich hergestellt werden.

Um eine Hybride zu züchten, werden zunächst zwei wenig verwandte Tierrassen oder Pflanzensorten in die Inzucht getrieben. Man stellt zwei getrennte Elterngenerationen her. Die sind dann durchaus mit all den degenerativen Problemen der Inzucht behaftet, also nicht unbedingt gesund und vital. Wenn aber diese beiden Elternrassen, oder bei Pflanzen Elternsorten, gemeinsam Nachkommen zeugen, dann entsteht eine Nachwuchsgeneration, die mit etwas Glück und viel Probieren den sogenannten Heterosiseffekt zeigt.

  Der Begriff stammt wieder aus dem Griechischen und bezeichnet eine Abweichung von der Norm, in diesem Fall von der Vielgestaltigkeit und der Leistung in Sachen Wachstum, Reife und Aussehen. Beim Gemüse sind die Hybriden gemeinhin gleichförmig in Größe und Aussehen, sie sind alle gleichzeitig erntereif und lange lagerfähig. Und sie bringen schon deshalb mehr Ertrag, weil nicht so viel aussortiert wird, was nicht „marktfähig“ ist. Die krumme Möhre, die kleine Zucchini, der große Maiskolben, der nicht in die genormte Versandkiste passt. Die Hybriden sind marktfähig. Toll oder, aber wo ist der Haken? Ganz einfach: sie verlieren an Geschmack und Bekömmlichkeit.

Hybride sind genetisch veränderte Pflanzen, die nicht mehr aus einer Art oder Sorte bestehen, sondern aus verschiedenen zusammengesetzt werden. Christina Henatsch, die auf Gut Wulfsdorf ihre eigenständige biodynamische Pflanzenzucht betreibt, sagt es drastisch: „Du weißt dann nicht mehr, ob du einen Blumenkohl oder einen Rettich isst.“ Denn die hybride Pflanze besteht eben aus der Genetik von beidem. Auch wenn sie wie ein Blumenkohl aussieht.

Gepfropftes Gemüse

Es geht noch einen Schritt weiter im Gemüsebeet und im Gewächshaus. Es werden auch samenfeste Sorten mit Hybriden verknüpft. Dann, wenn die Gemüsesorten, die verkauft werden sollen, auf sogenannte Unterlagen gepfropft werden. Das ist ähnlich wie bei Obstbäumen, wo der gewünschte Kulturapfel-Reiser auf einen dem Standort angepassten wilden Stamm gepfropft wird. Im Gewächshaus werden Tomatensprösslinge zum Beispiel auf Hybriden gesteckt, in denen auch Gurkengene stecken können.

Ein Schnitt hier und einer da und dann die beiden zusammengeführt. Schon übernimmt die Tomate die schnelle Wüchsigkeit und den höheren Ertrag von der Unterlage und auch die in diese gezüchtete Resistenz gegen bestimmte Pilzkrankheiten. „Und verliert dabei ihren Geschmack“, konstatiert Züchterin Christina Henatsch.

Sieht aber gut aus, nachher im Laden oder am Gemüsestand. Georg Lutz erklärt den Vorteil für den Anbaubetrieb am Beispiel Brokkoli. Da ist nämlich das meiste, was wir angeboten bekommen, hybrid.

Die Hybriden sind im Gemüsebeet alle gleichzeitig reif. Die Ernte ist schon deshalb weniger Aufwand. Dann sind sie alle ungefähr gleich groß und sehen auch gleichförmig aus. Und sie sind länger lagerfähig, ohne dass die geschlossenen Köpfe sich öffnen und in die Blüte gehen. „Eine samenfeste Sorte macht nach ein paar Tagen auf und beginnt zu blühen. Sie schmeckt dann immer noch besser als die Hybride. Das können die Kunden aber nicht feststellen, weil sie die dann gar nicht mehr kaufen.“

Zwanzig bis dreißig Prozent weniger aussortiertes Gemüse, das nicht „marktfähig“ ist. Und der erste Platz beim Greiftest, wenn die Kundinnen und Kunden im Laden rein nach der Optik entscheiden, was sie kaufen. Das sind die Argumente für die Hybriden. Und deshalb verkauft auch der Demeter-Betrieb Gut Wulfsdorf im Hofladen und auf den Marktständen noch immer Hybride. Auch wenn auf dem Hof von Christina Henatsch und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seit zwanzig Jahren samenfeste Gemüsesorten gezüchtet werden.

Wie wir unser Gemüse eher nicht kennen: Im Vordergrund öffnet der brusthohe Lauch gerade seine Blüte. Im Hintergrund wächst der Kohlrabi bis zur Decke.

Geschmack und Gesundheit

Für die Züchterin spricht alles gegen die Hybriden: Sie schmecken nicht und sie sind auch nicht gesund.

Das erste können Verbraucherinnen und Verbraucher zwar feststellen, in Ermangelung des direkten Geschmacksvergleichs von samenfester und hybrider Sorte aber nur als allgemeines Gefühl äußern. Auch die bunten Samentütchen für den Eigenanbau aus dem Super- oder Baumarkt, enthalten nämlich meist Hybriden.

Die sind womöglich auch noch steril. Die Samen aus der Tomate zu puhlen und fürs nächste Jahr aufzubewahren, hat dann keinen Sinn. Da wächst nichts. Man muss neue Samen kaufen. Abhängig vom Saatgutkonzern, wie auch die Gärtner.

Was bleibt, ist das fade Gefühl im Mund und bei den Älteren die dunkle Erinnerung, dass Tomaten oder Zucchini eigentlich mal anders oder überhaupt geschmeckt haben. Im heimischen Gemüsebeet oder den Töpfen auf dem Balkon kann man das ändern: Beim nächsten Samenkauf einfach darauf achten, dass man samenfeste Sorten nimmt. Steht drauf, gibt’s aber eher nur im Bioladen oder beim Biogärtner.

Beim zweiten Teil, dem gesundheitlichen Aspekt, den Christina Henatsch hervorhebt, wenn sie erklärt, warum für sie Hybride nicht in Frage kommen, wird es noch schwieriger mit der Wahrnehmung für uns. Wir müssen bewusst essen und nach dem Essen in uns hineinfühlen. „Ein gutes und bekömmliches Mahl soll uns ein Wohlgefühl hinterlassen“, sagt die Züchterin. Es geht darum zu fühlen: „Was bleibt in mir nach dem Geschmack? Ist es vollmundig, also füllt es mich ganz aus? Fühle ich mich wohl damit?“ Das andere Extrem wäre, nichts zu empfinden, sich leer zu fühlen oder sogar schlecht.

Empfindsame Menschen können nach einem Mahl mit Hybriden Kopfschmerzen bekommen oder Magendruck, sagt Christina Henatsch. „Das merk ich aber nur, wenn ich mich darauf einlasse. Wenn ich das einfach so esse, dann empfinde ich nach einer Hybridmahlzeit vielleicht nur Müdigkeit. Ich brauche einen Kaffee oder ein Stück Schokolade. Ich habe das Bedürfnis, mir hinterher noch etwas Gutes zu tun.“

Wenn das Essen nach dem Mahl quasi repariert werden muss, dann war es nichts, was uns guttut. Und das schreibt Christina Henatsch den Hybriden zu.

Quantität oder Qualität

In der Diskussion um die Pflanzenzucht geht es selten um gesundheitliche Aspekte der Menschen, für die diese Pflanzen Nahrungsmittel sein sollen. Es geht um die Gesundheit der Pflanzen, das schon. Hauptsächlich aber geht es um den Ertrag. Es geht um die Quantität und den Anteil des direkt Vermarktbaren. Wie viel vom Geernteten hat das gewünschte Aussehen und die gewünschte Größe, die in die genormte Verpackung passt?

Geschmack und Bekömmlichkeit sind nebensächlich, nicht aber die Lagerfähigkeit. Wie lange bleibt Gemüse frisch – zumindest optisch?

Züchterin Christina Henatsch fasst es so zusammen: „So lange wir es uns leisten können, fünfzig Prozent der Nahrungsmittel wegzuwerfen, haben wir kein Quantitätsproblem. So lange sechzig bis achtzig Prozent aller Krankheiten ernährungsbedingt sind, haben wir eben ein Qualitätsproblem.“

Und wenn wir es nicht hinbekommen, Pflanzen ohne Spritzmittel oder genetisch veränderte Hybridunterlagen gesund aufzuziehen, ist die Züchtung das Problem. „Wir haben ein massives Qualitätsproblem, sowohl was die Gesundheit der Pflanzen als auch die der Menschen angeht. Da versagt die konventionelle und auch die gentechnische Züchtung komplett! Deswegen brauchen wir biologisch-dynamische Züchtung, weil die die Gesamtheit der Pflanzen in Interaktion mit Boden, Umwelt und den Menschen im Blick hat.“

Fortsetzung folgt

So viel für heute vom samenfesten Saatgut und den ubiquitären Hybriden. Das Thema ist damit noch lange nicht vollständig und schon gar nicht umfassend behandelt. In Teil zwei wird es deshalb darum gehen, wie ein Verarbeiter von Gemüse es geschafft hat, nur noch samenfeste Sorten zu verwenden. Und es wird darum gehen, wie der Markt anders organisiert werden kann. So nämlich, dass am Ende wir alle, die Verbraucherinnen und Verbraucher, zu gesünderen und wohlschmeckenden Lebensmitteln kommen.

Einstweilen können wir ja alle mal versuchen, weniger Hybridgemüse einzukaufen. Es gibt in gut geführten Bioläden immerhin schon einige Sorten, auf denen steht, dass sie samenfest sind, und es gibt auch das Schweizer Label bioverita, von dem ich mir den Titel für diesen Blog geliehen habe, das sich auch in Deutschland verbreitet. Und ansonsten einfach fragen. Und dann den Laden zum Einkaufen auswählen, dessen Personal auf die Frage antworten kann, ob etwas samenfest ist.

Die Initiatorin der im letzten Blog beschriebenen Samen-Verleih-Aktion der Bibliotheken und des Vereins zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt: Kathrin Reckling-Freitag in ihrem Nutzgarten.

Mehr zur Zucht samenfester Sorten gibt es beim Verein Kultursaat.

Zur Erhaltungszucht alter Gemüsesorten, an der wir uns alle beteiligen können, habe ich im letzten Blog „Zukunftsrezept Leihsamen“ berichtet.

Der Podcast zum Thema ist unter anderem hier zu finden.