Zukunftsrezept Leihsamen

Leihsamen in der Bibliothek der Stadt Prüm in der Eifel. Hier kann man Samen für das eigene Beet „leihen“. Die Bitte der Bibliothek: Die Früchte nicht nur essen, sondern auch vermehren – und im Herbst Tütchen mit frischen Samen zurückgeben. | Foto: Cornelia Klose

Leihbibliotheken verleihen nicht nur Bücher und andere Medien. Immer mehr Bibliotheken verleihen jetzt auch Samen. Obwohl man einen Samen, den man im Frühjahr bekommen und ausgepflanzt hat, nicht mehr zurückgeben kann, erwarten die Bibliotheken Rückgabe im Herbst. Von dann frisch gewonnenem Samen der ausgepflanzten Arten.

„Saatgut leihen – Vielfalt ernten“ ist das Motto des Projekts, an dem sich inzwischen Bibliotheken aus vier Bundesländern beteiligen. Es geht um den Erhalt alter Nutzpflanzenarten und den Erhalt des alten Wissens über die Samenzucht. Gärtnern im eigenen Nutzgarten, oder dem Hochbeet oder auch dem Balkon, fängt nämlich nicht mit dem Kauf von Pflänzchen im Supermarkt an, sondern mit einem Tütchen voller winziger Samen, aus denen Großes erwachsen kann.

Saatleihe gegen Konzerne

Die Mutter der Idee ist Bibliothekarin im schleswig-holsteinischen Rendsburg und gleichzeitig engagierte Hobbygärtnerin. Außerdem ist sie Mitglied im VEN, dem Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt. Beruf und persönliches Interesse führen bisweilen zu fruchtbarer Lektüre, aus der dann gute Ideen erwachsen. Bei Kathrin Reckling-Freitag war es die Lektüre des Buches „Seed Libraries“ der US-amerikanischen Bloggerin und Permakultur-Beraterin Cindy Conner. Die beschreibt die ursprünglich aus Kanada stammende Idee, über Bibliotheken Samen zu verteilen und damit alte Nutzpflanzenarten zu erhalten.

Das ist durchaus politisch gemeint, wie Cindy Conner schon im Untertitel ihres Buches klarmacht. Ihr geht es darum, die Samen unserer Nutzpflanzen in den Händen der Menschen zu halten, oder, etwas pathetischer übersetzt, in den Händen des Volkes: „Keeping Seeds in the Hands of the People“. Das heißt, es geht gegen die großen, teils multinationalen Samenkonzerne, die die ehemals kleinen, lokal arbeitenden Samenzüchtereien verdrängt oder geschluckt haben.

Nach und nach haben die Samenkonzerne in den letzten Jahrzehnten die Landwirtschaft und auch die Gärtnereien weltweit von sich abhängig gemacht. Mit dem Verschwinden der kleinen Samenzüchtereien, die lokal angepasste Feldfrüchte, Getreide und Gemüsesorten vermehrten, dominieren immer mehr die Hybridsorten und genetisch veränderten Pflanzen der Großen.

Die Mutter der Idee: Hobbygärtnerin und Bibliothekarin in Rendsburg: Kathrin Reckling-Freitag | Foto: privat

Als Hybride bezeichnet man in der Zucht von Nutzpflanzen und Tieren Kreuzungen aus zwei Inzuchtlinien. Das Versprechen der Saatgutkon­zerne: Der Ertrag der Hybridsorten liegt weit über dem der Sorten aus der herkömmlichen Vermehrung. „Es macht daher Sinn, fortwährend neue Hybriden zu erzeugen, deren Produkte der Ernährung von Mensch und Tier dienen“, stellt das Lexikon der Biologie nüchtern fest. Die Hybridsorten müssen tatsächlich auch ständig neu erzeugt werden, weil die meisten Hybriden selbst nicht oder nur sehr eingeschränkt fortpflanzungsfähig sind. Der schöne Nebeneffekt für die Konzerne: Gärtnerinnen und Gärtner, Bäuerinnen und Bauern müssen ständig neues Saatgut nachkaufen. So funktioniert das, die ganze Ernährung der Menschen, nochmal pathetischer gesagt: der Menschheit, abhängig zu machen von den Konzernen.

Hybride gegen Vielfalt

Ein weiterer Nebeneffekt der sich ausbreitenden Macht der Saatgutkonzerne: Viele der Nutzpflanzenarten, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte lokal an Witterung und Böden angepasst wurden, gehen verloren. Und mit ihnen die genetische Vielfalt, die unter anderem gegen Krankheiten resistent macht. Viele Hybridsorten und genetisch veränderte Pflanzen sind dagegen besonders an den Einsatz von Pflanzenschutzmittel der Agrochemie angepasst. Man könnte meinen: Resilienz gegen Krankheiten sei deshalb nicht mehr so wichtig.

Den Verlust der Vielfalt der Nutzpflanzen und damit des Genpools, den die verschiedenen Arten darstellen, sehen vor allem die Biobetriebe seit Jahren mit Sorge. Deshalb setzen sie vermehrt auf eigene Saatgutzucht. Dazu mehr hier im nächsten Blog und dann auch im Podcast, wenn es um das große Thema samenfestes Saatgut geht.

Der Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt VEN hat sich eben dieser verschrieben und hält seine Mitglieder an, sich persönlich in ihren Gärten und Gewächshäusern um die Vermehrung der gewachsenen Vielfalt zu kümmern.

Es geht aber nicht nur die Vielfalt der Nutzpflanzen verloren, wenn die lokalen Züchterinnen und Züchter nicht mehr weitermachen. Es geht auch das Wissen um die Technik der Saatgutvermehrung verloren. „Früher konnte das jeder Bauer und jeder Gärtner“, sagt Kathrin Reckling-Freitag: „Auch in den vielen privaten Nutzgärten war das üblich, weil es auch nötig war.“ Heute sei das Wissen darum im Verschwinden, selbst auf dem Land.

Für die Bibliothekarin, deren Beruf es ja ist, das Wissen und die kulturellen Schätze, die sie hortet, auch unter die Leute zu bringen, lag es nahe, die Idee der öffentlichen Samen-Ausleihe aufzugreifen. In Schleswig-Holstein gibt es in den meisten Landkreisen Bücherbusse. Die Bibliotheken fahren zu den Leuten in die kleinen Städte und aufs Dorf. Und seit 2021 nehmen die Busse im Frühjahr auch Samentütchen mit. Auf dass auch die Hobbygärtnerinnen und -gärtner wieder lernen, wie sie selbst Samen von ihren Nutzpflanzen gewinnen können. Damit das Wissen darüber wieder wächst, werden die Samentütchen mit Newslettern und Webinaren begleitet.

Hier werden alte Nutzpflanzensorten erhalten: Der Garten von Jasmin Karp, der Projektleiterin von „Saatgutleihen“. | Foto von der Gärtnerin selbst

Der VEN hat sich auf fünf Gemüsearten konzentriert und dabei Sorten ausgesucht, die sich zumeist selbst befruchten und bei denen nicht die Gefahr besteht, dass sich fremde Gene einnisten. Möhren zum Beispiel sind deshalb nicht dabei. Der Urahn des Wurzelgemüses, die Wilde Möhre, wächst nämlich überall am Wegesrand und es braucht daher etwas Planung und Geschick, um eine alte Kulturmöhrenart sortenrein zu halten.

Wachsende Idee

Deshalb einstweilen nur fünf Gemüsearten, die vom Verein in die Samentütchen gepackt und an die Bibliotheken ausgegeben werden. Und es sind inzwischen viele Bibliotheken dabei. Die Samen-Ausleihe gibt es nicht mehr nur in Schleswig-Holstein, sondern inzwischen in zehn Bundesländern. Hauptsächlich dazugekommen sind Bibliotheken in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Die Liste der teilnehmenden Bibliotheken wächst, seit das Projekt beim Bibliothekartag vorgestellt wurde.

Die Liste der teilnehmenden Gemüsearten ist dagegen nicht so lang. Es geht im Prinzip um Freiland-Tomaten, Bohnen, Erbsen, Kopf- und Pflücksalate und um die Gartenmelde. Die gibt es rot und grün und sie ist vom allgegenwärtigen Spinat vom Speisezettel verdrängt worden. Zu Unrecht, wie die Kenner sagen. „Andererseits aber auch verständlich, denn die Gartenmelde ist nicht so lange haltbar wie der Spinat, weshalb sie selbst auf Bauernmärkten kaum auftauchen dürfte“, sagt Jasmin Karp, die Projektleiterin des VEN für die Saatgutleihe. Aus dem eigenen Garten frisch auf den Tisch ist sie allerdings vollwertiger Ersatz. Der VEN wollte mit der Aufnahme dieses Saatguts in die Ausleihe dieses Gemüse, oder – je nach Zubereitung – den Salat, wieder ins Bewusstsein rücken. Und was die anderen Arten angeht: auch die fächern sich auf in eine große Sortenvielfalt, die zu entdecken es viele Gartenjahre brauchen kann.

Erhaltener Genpool

Das alte Wissen um die Saatgutvermehrung erhalten, und die alten Gemüsesorten gleich mit – das ist die Idee hinter der „Saatgutleihe“: Projektleiterin Jasmin Karp. | Foto: privat

Das Projekt Saatgutleihe kommt gut an bei den Menschen, die gerne gärtnern. Die Erfahrung ist, sowohl von Jasmin Karp in der Zentrale des VEN, als auch von Kathrin Reckling-Freitag, dass der Rücklauf der Samen funktioniert. Einige bringen nichts zurück, was auch am Jahresverlauf, der Witterung und dem Gartenglück liegen mag. Aber von manchen Ausleihern kommen viele Samentütchen zurück, viel mehr, als sie ausgeliehen haben.

Das Projekt scheint zu glücken, auch bei den Bibliotheken, die keine Bücherbusse betreiben und nicht im Ursprungsland Schleswig-Holstein liegen. Der Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt könnte die Initiative, die an der Schnittstelle von Erwachsenenbildung und Citizen Science liegt, auch ausbauen. Natürlich dadurch, dass sich immer mehr Bibliotheken beteiligen, auch in anderen Bundesländern. Aber auch, indem der Verein neue Mitglieder gewinnt, die sich professioneller an der Erhaltungszucht gefährdeter Nutzpflanzen beteiligen, oder indem er weitere Gemüsesorten in das Leihprojekt integriert.

Die Saatgutkonzerne wird das nicht aufhalten, dazu ist mehr nötig. Über das wird an dieser Stelle demnächst zu reden sein. Aber vielleicht hilft das Projekt Saatgutleihe tatsächlich, den Genpool unserer Nutzpflanzen breiter zu halten – und vor allem das Bewusstsein über dessen Gefährdung.