Und die Ministerin weinte

Die niedersächsische Landwirtschaftsministerin brach Anfang Oktober vor dem Parlament in Tränen aus, als sie über die Situation der Schweinebäuerinnen im Land berichtete. Die leiden unter dem „Schweinestau“ in ihren Ställen. Am meisten leiden allerdings die Schweine. Deshalb weint aber keine Ministerin.

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„Entschuldigen Sie, ich bin ein wenig angefasst“, sagte Landwirtschaftsministerin Barbara Otte-Kinast, selbst bis zum Ministeramt Milchbäuerin, sie telefoniere derzeit häufig mit ebenfalls weinenden Bäuerinnen und Bauern: „Sie sagen, ich töte meine Schweine und werde mich umbringen.“ Verzweifelt sind die Schweinehalter wegen Corona. Das Virus findet beste Voraussetzungen für seine rasche Ausbreitung unter den Arbeitern der Schlachthöfe. Und da sich an den Arbeits- und Lebensbedingungen dort seit dem ersten großen Corona-Ausbruch bei Tönnies im Juni nicht viel geändert hat, erreicht die derzeit rollende zweite Pandemiewelle auch wieder die Schlachthöfe. Sie müssen die Produktion herunterfahren oder werden gleich ganz geschlossen. Damit wächst der „Schweinestau“. Und bei den Schweinehaltern die Angst, zusätzlich verstärkt durch die Afrikanischen Schweinepest. Bis Weihnachten, warnt Bauernpräsident Joachim Rukwied, könnte der Schweinestau auf eine Million nicht geschlachtete Tiere anwachsen. Es wird also weniger geschlachtet. Und dennoch bieten die Discounter auch diese Woche wieder Aktionspreise für frisches Schweinefleisch. Wie passt das zusammen?

Foto: Kim Newberg / Pixabay

Die Schnitzel-, Kotelett und Steakliebhaberinnen unter uns Verbraucherinnen müssen sich nicht sorgen: das Billigfleisch bleibt ihnen erhalten. Dieser Teil des Schweinesystems ist krisenfest, weil es trotz des Staus in den Ställen deutlich zu viel Fleisch auf dem Markt gibt.

Das liegt auch an der zweiten Schweinekrise, die durch Corona etwas aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde: Die Afrikanische Schweinepest hat Deutschland erreicht. Am 10. September wurde das Virus bei einem tot aufgefundenen Wildschwein im Südosten Brandenburgs nachgewiesen. Daraufhin haben viele Länder den Import von deutschem Schweinfleisch eingestellt, allen voran China. Nicht weil sie um die Gesundheit der fleischessenden Bevölkerung bangen, verhängen die Länder einen Importstopp. Die aus dem südlichen Afrika stammende Variante der Schweinepest ist für Menschen, ebenso wie die europäische Variante, völlig ungefährlich. Es geht bei allen Bekämpfungsmaßnahmen gegen die Schweinpest immer nur um die Eindämmung des wirtschaftlichen Schadens, wenn die Seuche auf den Nutztierbestand übergreift.

Das Reich der Mitte importiert eigentlich sehr viel Schweinefleisch aus Deutschland, obwohl China der größte Schweineproduzent weltweit ist. Dort wurden im vergangenen Jahr mehr als 54 Millionen Tonnen Schweinefleisch „produziert“, in Deutschland nur etwas mehr als fünf Millionen Tonnen. Was auch noch eine gewaltige Menge ist und Deutschland nach den USA zum drittgrößten Schweineschlachter der Welt macht. Wenn man weiß, dass die massenhaft gezüchteten und gemästeten Hybridschweine mit rund 120 Kilo Lebendgewicht geschlachtet werden und dass ein Schwein zwischen 75 und 80 Prozent „schlachtet“, dann bringt jedes geschlachtete Schwein am Ende weniger als hundert Kilo Fleisch auf die Waage. Für eine Tonne Schweinefleisch müssen also mehr als zehn Schweine sterben, für die vergangenes Jahr in deutschen Schlachthöfen produzierten 5.227.000 Tonnen entsprechend knapp 55 Millionen Tiere. Jeder in Deutschland lebende Mensch könnte also jedes Jahr deutlich mehr als ein halbes Schwein essen. Was keiner tut, denn der statistische Jahresverbrauch pro Kopf liegt bei derzeit knapp 34 Kilogramm, mit sinkender Tendenz.

Warum halten wir dann fast 25 Millionen Schweine, die nach gut einem halben Jahr geschlachtet werden müssen? Ja, müssen! Weil die auf schnelles Wachstum gezüchteten Hybridschweine sonst zu schwer werden für ihr eigenes Knochengerüst, und auch weil die knapp bemessenen Ställe zu klein werden für die wachsende Masse Schwein. Warum haben die Schweinehalter in Niedersachsen noch im September 400.000 Ferkel aus den Niederlanden und Dänemark aufgestallt und die Krise damit verschärft, während aus den Schlacht­höfen schon die nächsten Corona-Infektionen gemeldet wurden? Das hat selbst der um die Bäuerinnen und Bauern weinenden Landwirtschaftsministerin nicht gefallen. Inzwischen wird ein Schlachthof – wieder einmal einer von Tönnies ‑ wegen eines Corona-Ausbruchs dicht gemacht und ein zweiter könnte ebenfalls geschlossen werden. Und die „Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands“ legt sich mit der Gesundheitsministerin des Landes an und fordert den Weiterbetrieb trotz Corona. Und mehr noch, die Schweinehalter fordern statt Betriebsschließungen zusätzliche Schichten und Wochenendarbeit für die Schlachter, und die Aussetzung der Platzvorgaben für die Tiere.

Corona infiziert das Schweinesystem

Es scheint, dass Corona dem deutschen Schweinesystem die Grenzen aufzeigt. Das setzt bislang auf Überproduktion, Billiglohn und Futterim­port bei gleichzeitigem Export von Fleisch. Das Ganze subventioniert mit EU-Agrarmitteln und Wirtschaftsförderung. Systematisch haben die deutschen Fleischkonzerne in den vergangenen Jahren die europäische Konkurrenz geschädigt, indem sie ein Billiglohnimperium mit Arbeiterinnen aus Osteuropa aufgebaut haben. Mit Subunternehmen und Werkverträgen und Kasernierung der Arbeiterinnen in Massenunterkünften. Die grenznahen Schlachthöfe in den europäischen Nachbarländern konnten die deutschen Dumpingpreise fürs Schlachten nicht mithalten. Die Schweine wurden schließlich zum Sterben nach Deutschland gekarrt und die grenznahen Schlachthöfe in den westlichen Nachbarländern machten dicht. Nach dem ersten Corona-Ausbruch bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück hat der Bundesarbeitsminister angekündigt, dem System der Werkvertragsarbeit den Garaus zu machen. Und tatsächlich soll es im nächsten Jahr nicht mehr so einfach sein, die Verantwortung auf Subunternehmen abzuwälzen. Großschlachtereien sollen keine Fremdarbeiterinnen mehr einsetzen dürfen, Werkverträge und Leiharbeit werden in dieser Branche verboten. Ausgenommen sind Betriebe mit nur 50 Mitarbeiterninnen, die aber haben die großen fast alle schon kaputtgespart. Schlachten dürfte etwas teurer werden in Deutschland, es sei denn Tönnies und Co. finden noch ein paar andere Lobbyisten wie den ehemaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel, die das „schändliche Ausbeutungssystem“, wie es der jetzige SPD-Bundesarbeitsminister nennt, noch retten können.

Billig ist der Tod

Wenn das Schlachten in Deutschland ein wenig teurer werden sollte, ist das Schweinesystem aber noch nicht am Ende. Die Ställe sind gebaut und müssen mit immer neuen Mastschweinen gefüllt werden, sonst können die Betriebe ihre Kredite nicht zurückzahlen. Die Hybridschweine wachsen nun mal so schnell, wie sie hingezüchtet wurden, und also müssen auch zweimal im Jahr neue Ferkel aufgestallt werden. Weil die Mastschweine so schnell wachsen, weil sie so sehr auf rasche Gewichtszunahme getrimmt wurden, entwickeln sich auch ihre Krankheiten in hoher Geschwindigkeit. Und also verdienen auch die Pharmaindustrie und die Tierärztinnen an diesem System.

Mitte des Jahres hat sich die Stiftung Warentest das Schweinefleisch vorgenommen, das die Discounter wie Aldi und Lidl und die großen Lebensmitteleinzelhändler wie Rewe und Edeka verkaufen. Untersucht wurden Schweinenackensteaks und Koteletts. In zehn von 15 Proben fanden die Tester antibiotikaresistente Keime. Die entstehen in den Mastställen, weil die Schweine so oft krank sind und dann alle Schweine einer zusammenlebenden Gruppe oder die Besatzung eines ganzen Stalls ein Antibiotikum oder mehrere verabreicht bekommen. Diese Keime sind eine reale Gefahr für uns Menschen. Immer mehr Patientinnen sterben jedes Jahr, weil sie mit Bakterien infiziert sind, die nicht mehr auf normale Antibiotika reagieren. Vergangenes Jahr hat das Robert-Koch-Institut eine Schätzung veröffentlicht, wonach jährlich bis zu 20.000 Patientinnen in Deutschland durch antibiotikaresistente Krankenhauskeime sterben. In deutschen Schweineställen und Geflügelmastbetrieben werden solche Keime gezüchtet.

Um diese Toten weint aber keine Ministerin. Die Ministerin weinte über die Not der Landwirtinnen. Und die ist auch real, genauso wie die Not der Arbeiterinnen in den Schlachtbetrieben und die Not der Tiere in den Ställen. All die Toten, die wir vor Augen haben könnten, wenn wir das nächste Mal vor der Kühltheke stehen und das Sonderangebot sehen. Frisches Schweinenackensteak, die 700-Gramm-Packung diese Woche für 2,90 statt 3,87. Und die Züchterinnen bekommen zwölf Euro weniger fürs Ferkel, und die Mästerinnen kaum noch 1,50 für das Kilo Schlachtgewicht. Und die Kosten für Futter und Aufzucht bleiben gleich, und die Kosten für die Entsorgung der Gülle steigen. Und wir finanzieren das ganze System, indem wir beim Fleischkauf sparen.

Ach so, es geht natürlich auch anders: Wir müssen nicht ganz auf Fleisch verzichten, wir können da kaufen, wo es den Tieren besser geht – und den Bäuerinnen übrigens auch. Da, wo es dann allerdings auch deutlich teurer ist, oder sagen wir besser: preislich angemessener. Auch Bio ist subventioniert, aber der Preis der Ware kommt den tatsächlichen Kosten für uns alle, für die Gesellschaft, deutlich näher. Aber das ist eine andere Geschichte …