Wolf und Weidetiere / Teil 2

Heckrinder bei der Arbeit im Naturschutz. Die den ausgestorbenen Auerochsen nachgezüchteten Rinder beginnen in einem neuen Beweidungsprojekt, den Bewuchs zu bearbeiten. | Alle Fotos: Florian Schwinn

50 tote Schafe im Landkreis Stade, 22 gerissene Schafe im Landkreis Harburg, dann zwei Kühe wieder bei Stade. Die Wölfe in Niedersachsen sind sehr aktiv und ihre Angriffe auf Nutztiere kommen den Dörfern immer näher. Und sie scheinen zunehmend schneller zu lernen, wie auch vorschriftsmäßig installierte und staatlich bezuschusste Herdenschutzzäune überwunden oder untergraben werden können. Dabei kommen die Wölfe nicht nur in Konflikt mit dem Küstenschutz, wie schon im ersten Podcast und Blog zu diesem Thema gezeigt. Sie machen auch Naturschutz und Artenschutz an manchen Stellen schwieriger und tendenziell unmöglich. Aber wie kann das eigentlich sein? Der Wolf steht doch selbst unter Naturschutz?

Um das spannungsgeladene und spannende Verhältnis von Wolf und Weidetieren kümmert sich diese Mini-Serie. Nachdem es beim letzten Mal ums Grundsätzliche ging, um das Verhältnis Mensch und Nutztier versus Wolf, widmet sich dieser zweite Teil verstärkt dem Thema Naturschutz und Artenschutz versus Wolf. Ja, das kann durchaus ein Gegensatz sein.

Wolfsfreie Zonen

Im ersten Teil zum Thema Wolf und Weidetiere habe ich die Schäferin Nicole Salomo und ihre Herdenschutzhunde vorgestellt. Jeweils drei der Maremmanos oder Kaukasischen Hütehunde bewachen eine ihrer Herden. Und das scheint bislang der sicherste Schutz gegen Wolfsangriffe zu sein. Nicole Salomo hatte in den zehn Jahren, die sie jetzt im Wendland mit den Hunden arbeitet, jedenfalls noch keinen Riss. Und im Wendland ruft auch niemand laut nach Regulierung und Abschuss.

Anders ist das an der Nordseeküste und an den Deichen der Flussmündungen, in denen die Flut von See aus das Wasser aufstaut. Dort lässt sich nämlich nicht zäunen – und ohne Zaun kann man auch keine Herdenschutzhunde einsetzen. Die Hunde brauchen den Zaun nicht etwa als Schutz vor den Wölfen, sondern damit sie wissen, in welchem Gebiet sie ihre Schafe verteidigen sollen. Ohne Zaun würden sie auch Spaziergänger und Surfer angehen.

Warum die Maremmanos, die bei uns gerne eingesetzt werden, keine lustigen Spielgefährten sind, lässt sich leicht mit ihrer Herkunft erklären. Die Rasse heißt mit vollem Namen „Cane da Pastore Maremmano-Abruzzese“ und ist eine Kreuzung der Schäferhunde der toskanischen Maremma und der angrenzenden Abruzzen. In den Bergen dort wurden die Wölfe nie ausgerottet oder vertrieben. Entsprechend leben die Schafhirten dort schon immer mit den Wölfen. Um das zu können, brauchten sie Hunde, die kämpfen können und das auch wollen. Ihre Hütehunde sind auch Schutzhunde. Sie verteidigen die Schafe gegen Wölfe und Bären, und auch gegen streunende und verwilderte andere Hunde. Man kann die Hunde aber so trainieren, dass sie das nur innerhalb eines Weidezauns tun und Menschen und sogar andere Hunde außerhalb des Zauns in Ruhe lassen. Naja, ganz in Ruhe auch nicht. Sie kommen schon angerannt und bellen, was bei so großen und kräftigen Hunden kein angenehmes Geräusch ist.

Wenn die Schäferin da ist, sind die Hunde ganz lieb. Wenn Fremde ihren Schafen zu nahe kommen sind sie alles andere als freundlich. Maremmanos werden auf älteren Bildern nicht Schäferhund, sondern Wolfshund genannt. Das ist ihre Aufgabe: Wölfe abwehren.

Am Seedeich kann man aber keinen geschlossenen Weidezaun aufstellen. Da muss der Teil des Deiches, der zur Nordsee hin geht, offenbleiben. Das liegt einerseits daran, dass das Meer sich sechs Stunden lang zurückzieht und in vielen Bereichen dann Salzwiesen frei gibt, die von den Schafen auch beweidet werden sollen, um sie zu festigen. Dann kommt das Wasser aber wieder zurück und würde jeden normalen Weidezaun wegspülen. Außerdem ist der Weg an der Küste entlang einer der wichtigsten Wander- und Fahrradweg der Urlaubsregion.

Chefsache

Deshalb sind die Schafe am Deich ungeschützt, und deshalb hat es an der niedersächsischen Küste nach jedem der letzten Wolfsangriffe, auch auf Schafe innerhalb geschlossener Zäune, die Forderung nach „wolfsfreien Deichen“ oder gleich ganzen „wolfsfreien Zonen“ gegeben. Im Marschland, also im Binnenland vor den Deichen, lässt sich nämlich auch kaum mit den festen wolfssicheren Zäunen arbeiten. Die ja zudem auch nicht wirklich wolfssicher sind, wie gerade bemerkt.

In den letzten Wochen ist der Wolf an der Küste nun ganz offensichtlich zur Chefsache geworden. Der grüne Umweltminister Christian Meyer reist zwar nach jedem neuen Wolfsangriff an und spricht mit den Tierhaltern. Er hat auch mit der ebenfalls grünen Bundesumweltministerin Steffi Lemke gesprochen, die ihm versprochen hat, Abschussgenehmigungen für Problemwölfe juristisch und verwaltungstechnisch einfacher zu machen. Aber passiert ist nichts Sichtbares, weshalb die Gesprächspartner dem Minister wenig glauben. Also hat sich der Ministerpräsident eingemischt.

Stephan Weil hat in einem Interview gesagt, dass das geforderte „Bestandsmanagement“ beim Wolf eben auch heiße, dass Bestände reduziert werden müssten, „da wo es einfach zu viel wird“. Das sei längst nicht überall im Bundesland der Fall, „aber wenn ich an die Küsten denke, wo sich die Menschen Sorgen machen über den Zustand der Deiche, weil die Schafe dem Deichschutz nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen, da muss man sagen: Das ist eine Region, wo man auch die Zahl der Wölfe wesentlich reduzieren muss.“

Das hat Niedersachsens Ministerpräsident jetzt als Ziel ausgegeben und das hat er auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bei einem Treffen in Brüssel gesagt. Dorthin waren einige deutsche Ministerpräsidentinnen und -präsidenten auch gereist, um über den Schutzstatus des Wolfes in der Europäischen Union zu sprechen, den sie gerne deutlich zurückfahren würden.

Es gibt noch andere Gebiete, die sich nicht wolfssicher einzäunen lassen, schon deshalb nicht, weil da, wo der Wolf nicht durchkommen soll, auch kein anderes Wild mehr durchwandern kann. Das sind zum Beispiel die inzwischen zahlreichen Naturschutzgebiete, die beweidet werden. Über die wird überhaupt noch nicht diskutiert, wohl auch deshalb, weil das besonders schwierig wird. Da steht nämlich der unter höchstem Naturschutz stehende Wolf gegen den wichtigsten Biotopnaturschutz, den wir haben.

Wolf kontra Naturschutz

Hier kann es keinen wolfssicheren Zaun geben: Galloways im 440 Hektar großen Weidegebiet Stiftungsland Schäferhaus. Die Rinder haben aus dem ehemaligen Truppenübungsplatz einen Hotspot der Biodiversität gemacht.

Das Stiftungsland Schäferhaus ist ein solches Gebiet, ein mehrere hundert Hektar großes Weideprojekt mit Galloway-Rindern und Konik-Pferden. Die Tiere haben in fünfundzwanzig Jahren ganzjähriger Beweidung aus einem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Flensburg eine norddeutsche Savanne gemacht. Ich habe diese Landschaft schon in dem Beitrag „Besuch im Psychotop“ vorgestellt und das Projekt der Ganzjahresweide im Blog „Landwirtschaft als Naturschutz“.

Damals war der Wolf noch nicht so sehr im Blick, weil bis dahin nur einzelne Wölfe durch die Region gewandert waren. Jetzt aber gibt es auch in Schleswig-Holstein Wolfsnachwuchs und auch auf der Höhe von Sylt gab es die ersten Risse. Da ist es dann wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Wolf auch für die Koniks und die Galloways im Stiftungsland Schäferhaus ein Thema wird.

Die Koniks werden gerne Wildpferde genannt, sind aber ursprünglich polnische Arbeitsponys. Konik heißt denn auch auf Deutsch schlicht Pferdchen, was auch die Größe klarmacht. Auch die Galloways sind eine kleine Rinderrasse, allerdings stämmig und robust. Sie stammen aus der gleichnamigen schottischen Gegend und ihnen fehlt die rindertypische Waffe auf dem Kopf. Sie sind genetisch hornlos. Und das schon sehr lange. Der römische Dichter Livius Andronicus berichtete schon von den hornlosen schwarzen und braunen Rindern aus dem Norden Britanniens, die als einzige Lebewesen den Hadrianswall überqueren durften. Die Römer schätzten das Fleisch der Tiere und ließen sie daher gerne nach Süden durchziehen. Wahrscheinlich gab es auch zur Römerzeit keine Wölfe auf der britischen Insel, weshalb sich die Galloways die Hornlosigkeit leisten konnten. Andererseits sollen sie als Herde durchaus wehrhaft sein.

Gerd Kämmer, der Geschäftsführer des Biolandbetriebs Bunde Wischen, der in Schleswig-Holstein 1700 Hektar halboffenes Weideland mit tausend Rindern und zweihundert Koniks beweidet, ist gespannt darauf, was passiert, wenn immer mehr Wölfe durch die Weidelandschaften ziehen. Vielleicht wäre angespannt das bessere Wort, denn er erwartet nichts Gutes. „Vielleicht werden wir den Spaziergängern noch dankbar sein, die ihre Hunde in den Weidegebieten trotz Leinengebots frei herumlaufen lassen“, sagt er: „Denn so werden die Galloways auf die Hunde fixiert und greifen die auch an, um ihre Kälber zu schützen.“ Schon klar, dass ein Hund kein Wolf ist, aber vielleicht hilft es, wenn die Rinder schon die Hunde als möglich Feinde ansehen. Einzelne durchziehenden Wölfe machen Gerd Kämmer dann auch weniger Sorgen.

Aber was passiert, wenn sich ein Rudel in der Gegend niederlässt? „Ich sehe das Hauptthema gar nicht bei einzelnen Tierverlusten, sondern dass uns die Wölfe die Herden schwerer oder gar nicht mehr handhabbar machen. Sie werden die jagen und treiben und wenn Panik herrscht in einer Rinderherde, dann hält die auch kein Weidezaun mehr auf.“

Das Naturschutzgebiet Schäferhaus, durch Beweidung vom Truppenübungsplatz zum artenreichen Biotop geworden und ein Hotspot der Biodiversität, grenzt im Westen fast direkt an die Autobahn. Und die A7 ist an dieser Stelle nicht einmal mit einem Wildschutzzaun gesichert. „Wenn an solchen Stellen dann Ausbrüche aus dem Weidegebiet stattfinden, dann wird es da richtig gefährlich. Das möchte ich lieber nicht erleben“, sagt Gerd Kämmer, „und am Ende hängt kein Zettel dran auf dem steht: Das waren die Wölfe!“

Projektende

So könnte ein Wolfsrudel ein erfolgreiches Naturschutzprojekt beenden und die halboffene Weidelandschaft dort verloren gehen, weil die angepasste Landwirtschaft mit Ganzjahresweide dann nicht mehr möglich ist. Das wäre ein riesiger Verlust für die Biodiversität, ein großer Rückschlag für den Naturschutz und ein Menetekel für die Weidehaltung insgesamt. Deshalb sagt der Naturschützer Gerd Kämmer: „Nein, den Wolf brauchen wir hier nicht, weil er uns so sehr diese Weidetierhaltung gefährdet!“ Es sei ja schon schwer genug, mit all den Auflagen und Vorgaben, die der Freilandhaltung von Weidetieren gemacht werden, überhaupt noch Landwirte zu finden, die bereit sind, das zu machen. „Wenn dann noch das Thema Wolf dazu kommt, wird es noch schwieriger sein, Menschen dazu zu bewegen, ihre Tiere rauszulassen.“ Das genau wäre aber das Rezept für mehr Biodiversität und mehr Klimaschutz.

Was nämlich Bunde Wischen in Schleswig-Holstein macht und inzwischen auch viele andere Projekte, die ganzjährig mit Rindern und Koniks ganze Landschaften beweiden: Sie stellen eine ursprüngliche Landschaft mit unserer ursprünglichen Artenvielfalt wieder her. Die heutigen Nutztiere ersetzen die ehemals hier weidenden Herden von Auerochsen und Wildpferden und Wisenten und Rentieren. Sie halten die Landschaft offen, schaffen mit Bauminseln bestandenes Grasland und damit Lebensraum für all die vielen bedrohten Arten, die in den letzten Jahrzehnten geschwunden und zum Teil auch verschwunden sind. Gleichzeitig ist das Weideland eine Kohlenstoffsenke. Im Weideboden baut sich mehr Humus auf als im Waldboden. Und Humus besteht aus abgestorbenem organischem Material, das von den Bodentieren umgewandelt und im Boden eingelagert wird. Im Humus gespeichert sind sechzig Prozent Kohlenstoff, den die Pflanzen zuvor aus der Luft geholt haben. So helfen die Weidetiere nicht nur die Biodiversität wieder herzustellen, sondern auch, das Klima zu schützen.

  • Und wer jetzt glaubt, das könne nicht sein, weil Rinder doch Methan ausstoßen, der lese den Beitrag „Die Kuh-Klima-Lüge“ oder höre den Podcast dazu. Ende des Werbeblocks und weiter mit dem Wolf und den Weidetieren.
Bunde Wischen Geschäftsführer Gerd Kämmer im Weideland. Wenn er nach den Tieren schaut wird er immer wieder von Spaziergängern angesprochen. Dann erklärt, wie die Beweidung die Biodiversität fördert.

Wolf und Ökosysteme

Der Bundesverband Ökologische Lebensmittelwirtschaft BÖLW war einer der ersten Ökoverbände, der eine Position zum Wolf in Deutschland verfasst hatte. Darin stand, dass zu einem vollständigen natürlichen Ökosystem auch große Prädatoren gehören, also Raubtiere wie der Wolf. Die Wölfe haben in einem vollständigen funktionierenden Ökosystem mit großen Weidetieren eine ordnende Funktion. Sie fangen die kranken und schwachen Tiere heraus und halten damit auch die Herden gesund.

Dieses erste Positionspapier des BÖLW ist inzwischen durch ein neues ersetzt, in dem der Satz über die großen Prädatoren fehlt. Da ich den aber noch in Erinnerung hatte, habe ich den Biologen und Naturschützer Gerd Kämmer gefragt: Gibt es bei uns in Deutschland überhaupt noch ein vollständiges natürliches Ökosystem, in dem Wölfe ihre ursprüngliche Funktion erfüllen könnten? Haben wir so etwas überhaupt? Gerd Kämmer sagt: „Nein!“ Wir haben keine vollständigen natürlichen Ökosysteme mehr in Deutschland. Es gibt keine Wildnis mehr. Alles ist von uns Menschen überformt.

Gehören also Wölfe zu unseren kulturlandschaftlichen Ökosystemen? „Aus meiner Sicht nein“, sagt Gerd Kämmer: „Für ein vollständiges Ökosystem würde man sie natürlich brauchen. Eine sich ausbreitende Population von großen Weidetieren braucht natürlich einen limitierenden Faktor. Das war die Funktion der Wölfe und anderer großer Raubtiere wie Bären, die in der Lage sind, solche Tiere zu töten und auch zu verwerten.“ Aber das war einmal. Heute hätten wir diese Aufgabe übernommen. „Wir sorgen dafür, dass es den Tieren im Weideland gut geht und sie dort auch im Winter ausreichend Futter finden, indem wir so viele Tiere entnehmen, wie dazu nötig ist und deren Fleisch auch vermarkten.“

Aber könnten wir das mit der „Entnahme“ nicht auch wieder die Wölfe machen lassen? Wenigstens da, wo es mehr um Naturschutz als um Landwirtschaft geht? Könnten wir aus mehreren Gründen nicht, sagt Gerd Kämmer. Einer ist die Begrenzung unserer Weidegebiete mit ganzjährigem Weidegang. Das sind ja nur ein paar wenige Flächen in Deutsch-land und im Vergleich zum Revier eines Wolfsrudels verschwindend kleine. Außerdem können die Wölfe dann bei den halbwild lebenden Weidetieren üben, wie das geht, solch großen Tiere zu erlegen. Und wenn sie das gelernt haben, dann können sie sich den Milchkühen des Nachbarn widmen, die aus ihren kleinen Weiden gar nicht fliehen und sich auch schlechter verteidigen können als Robustrinder.

Keine Abschottung

Also doch ein viele Kilometer langer wolfssicherer Zaun quer durch die Landschaft? Keine Option, sagt Gerd Kämmer. „Wolfssichere Zäune um hunderte von Hektar große Weidelandschaften wäre niemals ein Thema für uns, selbst wenn das finanzierbar wäre, weil wir dann auch alle anderen Wildtiere aussperren würden.“ Nicht einmal mehr die Rothirsche könnten dann die Galloways besuchen kommen, wie das im Stiftungsland Schäferhaus immer wieder zu beobachten ist. „Wir wollen ja eben keine geschlossenen, hermetisch abgeschirmten Flächen. Unsere halboffenen Weiden sollen in die Landschaft hineinwirken und alle anderen Tiere, die die Weidelandschaften besiedeln, sollen ja gerade auch hinaus und herein können. So wie die Hirsche, die aus dem Stand über den Rinderweidezaun springen. Und in solch einem System wird es dann schwierig mit dem Wolf.“

Mit Sorge und auch deutlich geäußertem Unverständnis schaut Gerd Kämmer nach Niedersachsen, wo man mehrere Wolfsrudel einfach machen ließe, die sich auf Weidetiere spezialisiert haben. „Die haben gelernt, Schutzzäune zu überwinden und auch große Weidetiere anzugreifen. Und die geben ihr Wissen jetzt an die nächsten Generationen weiter, an die Jungwölfe die dann ihr Rudel verlassen und andere Regionen besiedeln. Wir züchten uns da gerade Wolfspopulationen heran, die genau das machen, was wir überhaupt nicht brauchen können: Tödlich für die Weidehaltung, für den Naturschutz, für die Biodiversität.“  Allerdings habe eines der auf Weidetiere spezialisierten Wolfsrudel vor einiger Zeit vielleicht einen gravierenden Fehler gemacht, indem es Richtung Hannover zog und dort „Uschis Pony“ gefressen habe. Vielleicht würde das ja in Brüssel zu etwas Nachdenken führen.

Womit wir wieder bei Ursula von der Leyen wären, mit der ja in Brüssel auch schon der Niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil über den Schutzstatus des Wolfes gesprochen hat.

Konsequenz

In anderen großflächigen Naturschutzgebieten, wo die Landschaft mit ganzjähriger Beweidung mit Rindern und Koniks offengehalten wird, haben sich die Wölfe längst niedergelassen. Mit harten Konsequenzen.

Ich habe die Oranienbaumer Heide bei Dessau in Sachsen-Anhalt besucht und mich mit dem Geschäftsführer des landwirtschaftlichen Betriebes getroffen, der dort die Beweidung organisiert. Primigenius heißt der Betrieb und der Name ist Programm, denn Bos primigenius ist der wissenschaftliche Name des von uns letztlich ausgerotteten Auerochsen. Stefan Reinhard ist der Geschäftsführer der gemeinnützigen Primigenius GmbH, die wiederum der Naturschutzbund Nabu gegründet hat. Als der gelernte Landwirt Stefan Reinhard seine Stelle in Wulfen bei Köthen und Dessau antrat, war der Wolf in der Oranienbaumer Heide längst sesshaft geworden. „Wir haben hier mitten im Weidegebiet ein Wolfsrudel. Deren Rendez-vous-Platz ist da, wo unsere Weidetiere leben. Genau da ziehen die Wölfe ihre Welpen auf“, sagt Stefan Reinhard. Und das bedeutete, es gab Angriffe auf die Weidetiere.

Zwiesprache mit dem Hengst: Stefan Reinhard bei den Koniks in der Oranienbaumer Heide. Dieser Hengst darf wegen der Wölfe keine Fohlen mehr zeugen, die Stuten dürfen keine mehr gebären.

Die Folge der Wolfsansiedlung war drastisch: Es kam im Beweidungsgebiet kein Kalb mehr durch und es wurde kein Fohlen mehr groß. Die großen Heckrinder konnten ihre Kälber zuerst noch schützen. Heckrinder sind sogenannte Abbildzuchten, mit denen die Zoologenbrüder Heck in den 1920er Jahren die Auerochsen wieder erstehen lassen wollten – wenigstens als Abbild. Sie haben mächtige Hörner und sind nicht unbedingt friedliche Tiere. Wenn die Heckrindkälber aber dann ins Flegelalter kamen, ihre Mütter verließen und die Umgebung erkunden wollten, dann waren sie sichere Beute der Wölfe. Das musste Stefan Reinhard abstellen.

Vermeidungsstrategie

„Wir mussten einfach reagieren“, sagt Stefan Reinhard, „wir sind ja als Tierhalter nicht nur verpflichtet, unsere Tiere vor Hunger und Durst zu schützen, sondern auch vor Wolfsübergriffen. Wir sind ja auch für ihre Gesundheit verantwortlich.“ Und das führte dann zu einer harten Entscheidung: „Wir haben die Reproduktion in diesem Weidegebiet eingestellt.“ Es gibt keine Kälber und keine Fohlen mehr, die leichte Beute für die Wölfe werden könnten. Die männlichen Heckrinder sind keine Bullen mehr, sondern Ochsen. Dadurch können die Kühe keine Kälber mehr bekommen, was für Kühe übrigens kein besonders schönes Leben bedeutet. Bei den Koniks war das mit Kastration der beiden Hengste, die mit ihren Herden in der Heide leben, nicht so einfach machbar. Die Hengste halten die Gruppen zusammen und nur gemeinsam können sich die Pferde gegen die Wölfe wehren. Also wurden die beiden Hengste in einer aufwendigen und teuren Vasektomie-Operation sterilisiert.

„Wir lassen nur noch gesunde Alttiere auf die Fläche“, sagt Stefan Reinhard, und der Erfolg gibt ihm Recht. „Seit 2018 hatten wir keinen Wolfsriss mehr“, auch wenn das Konzept, das er „Vermeidungsstrategie“ nennt, alles andere als befriedigend sein mag und schon gar kein Beispiel, an dem sich landwirtschaftliche Betriebe orientieren können. Es ist hoch aufwendig, die Tiere in einem mit hoffentlich wolfssicheren Zäunen begrenzten dorfnahen Gebiet Kilometer entfernt aufzuziehen, dort Bullen und Kühe zu halten und sie dann, wenn sie alt genug sind, in die Oranienbaumer Heide zu bringen, wo sie ihren Job im Naturschutz nachgehen sollen. Mit dem einfachen Transport ins Beweidungsprojekt ist es nämlich auch nicht getan. Die Tiere dort brauchen besondere Aufmerksamkeit und Beobachtung.

Als ich mich mit Stefan Reinhard traf, hatte er einen Viehanhänger an seinem Pickup ins Gelände gezogen. Er und ein Mitarbeiter von Primigenius waren auf der Suche nach einem Ochsen, der auf einem Lauf lahmt. Der hatte sich vielleicht nur den Fuß vertreten. Was anderswo womöglich kein Problem gewesen wäre, ist hier dann eines, denn das lahmende Tier ist dann nicht mehr so schnell und so wendig, dass es sich gegen die Wölfe wehren kann. „Und wenn wir dem was Gutes tun wollen, dann können wir ihn eigentlich nur mitnehmen und durch ein anderes gesundes Tier ersetzen“, sagt Stefan Reinhard. Wobei es nicht nur um die Fürsorgepflicht des Tierhalters geht, sondern auch darum, dass die Wölfe in der Oranienbaumer Heide nicht lernen sollen, große Weidetiere zu erlegen. Denn damit würden sie und ihr Nachwuchs dann auch die Tierhaltung in der ganzen Region erschweren oder unmöglich machen.

Heiderettung

Das Naturschutzgebiet Oranienbaumer Heide ist knapp 2700 Hektar groß und gehört zum Biosphärenreservat Mittelelbe. Auch dieses große Areal war einmal ein Truppenübungsplatz. Da wir uns in Sachsen-Anhalt befinden natürlich einer der Roten Armee. Als die 1992 abzog, war erst einmal lange nicht klar, was mit dem Areal geschehen sollte. Es geschah erst einmal nichts und die Landschaft wuchs langsam zu, die Heide, die Region ihren Namen gibt, sie starb vor sich hin. Dann wurde klar, dass mit dem aufwachsenden Wald auch die Biodiversität immer mehr schwand, und die Deutsche Bundesstiftung Umwelt und der Bundesforst übernahmen die Regie und arbeiteten mit der Hochschule Anhalt ein Erhaltungsprogramm für die Heide aus.

Große Maschinen räumten den zwanzig Jahre aufgewachsenen Baumbestand teilweise ab, was aber die Heide noch nicht rettete. Das wurde dann Aufgabe der Rinder und der Koniks. Achthundert Hektar werden inzwischen ganzjährig beweidet. Es würde sich lohnen, jetzt ganz weit auszuholen und die wunderbare Wirkung dieser Beweidung für die biologische Vielfalt in der Region zu erklären. Das mache ich vielleicht hier auch noch, verweise für jetzt aber erstmal auf eine Netzseite der Hochschule Anhalt, die das Projekt betreut.

Gerettet durch Beweidung: Die Heide wächst wieder. Heckrinder und Koniks haben der Oranienbaumer Heide in Sachsen-Anhalt ihre namensgebende Pflanze zurückgegeben. Und mit ihr viele andere Pflanzen und Tiere. Auch Wiedehopf und Ziegenmelker sind wieder da.

Vermeidungsstrategie hat Stefan Reinhard das genannt, was er beim Beweidungsprojekt Oranienbaumer Heide macht. Das ist wie gesagt etwas, was sich ein Projekt leisten kann. Zudem eines, das in der sehr kargen Heideregion nur sehr wenig mit Landwirtschaft zu tun hat. Primigenius ist zwar ein landwirtschaftlicher Betrieb und vermarktet auch das Fleisch der Tiere, aber der Besatz in der Heide kann nur sehr gering sein, weil die Tiere ja auch im Winter dort satt werden sollen. Ein normaler landwirtschaftlicher Betrieb, der ja mit seinen Tieren auch noch Geld verdienen muss, kann sich den Aufwand, der um das Beweidungsprojekt betrieben wird, nicht leisten. Und das Beispiel Oranienbaumer Heide ist auch nicht unbedingt eines, was Nachahmer ermutigt, die Tiere wieder aus den Ställen zu lassen.

Der Weidegang unserer Wiederkäuer wäre aber eben der ganz große Hebel für mehr Biodiversität und mehr Klimaschutz. Nichts schafft so schnell Abhilfe bei der Verarmung unserer Landschaften wie weidende Wiederkäuer. Allein ihr Dung auf der Weide zieht so viele Insekten an, ist eine Kinderstube für so viele Tiere, von denen dann wieder andere leben können, dass im Fallen des Kuhfladens vom Hintern des Rindes auf den Weideboden richtig Zukunft liegt.

Wolf stört

Es geht um den Schutz und den Wiederaufbau von Biotopen, die uns in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen sind, sagt der Biologe Werner Kunz, emeritierter Professor von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der sich ganz dem Artenschutz und der Biodiversität verschrieben hat. Sein Buch „Artenschutz durch Habitatmanagement“ trägt den Untertitel „Der Mythos von der unberührten Natur“. Daraus lässt sich ablesen, dass Werner Kunz für Eingriffe in die Natur ist. Zum Beispiel für solche mit Weidetieren. Und dabei störe der Wolf. Zumal der Wolf in Deutschland keineswegs mehr gefährdet sei. Es gebe keinen Grund, ihn noch weiter zu schützen. Er bringt es auf den Punkt, indem er sagt, was viele Naturschützer nicht hören wollen und andere sich nicht zu sagen trauen: „Ich bin der Meinung, dass der Wolf in stärkerem Maße abgeschossen werden muss.”

Drei Gründe führt der Artenschützer an. Erstens, dass der Wolf nun wirklich nicht mehr schützenswert sei, weil ja eben überall verbreitet. Zweitens, dass der Wolf wirklich gefährlich sei und wenn er den ersten Menschen getötet habe, „was ja durchaus geschehen kann“. Dann wäre das ein gewaltiger Schaden – und das am Ende auch für den Naturschutz. Denn dann wäre die Gleichung: Wolf gleich Naturschutz, Naturschutz also gefährlich für die Menschen.

Fazit: „Man soll den Wolf nicht so sehr schützen, weil das am Ende dem ganzen Artenschutz schadet. Da sollte man sich lieber anderen Tieren widmen, dem Haselhuhn zum Beispiel“, sagt der Professor. Der dritte Grund sei, dass der Wolf kein Biotop zum Leben brauche. Er gehöre nicht zu einem bestimmten Ökosystem, er könne letztlich auch in der Stadt leben, wenn er dort genügend zu fressen finde. Wir müssten aber verloren gegangene Biotope wieder aufbauen oder die letzten vorhandenen schützen, wenn wir gegen das Artensterben und den Biodiversitätsverlust etwas tun wollten. Und genau dabei störe der Wolf.

Der Wolf, hat ein anderer Ökologe mir vor kurzem gesagt, sei nicht wichtig für die biologische Vielfalt. Jede Schafherde sei in ihrer Wirkung wertvoller.

So kann’s kommen, dass Naturschutz gegen Naturschutz steht und ein streng naturgeschütztes Tier gegen den Artenschutz. So stehen lassen kann man das aber sicher auf Dauer nicht. Wir müssten dann schon mal entscheiden, wie es weitergehen soll mit dem Wolf in Deutschland. Schon im ersten Teil dieser Miniserie von Blog und Podcast hat Wolfsberater Kenny Kenner ja ähnliches gesagt wie Werner Kunz: Er möchte eine belastbare Struktur im sogenannten Wolfsmanagement haben, bevor der erste Mensch Opfer von Wölfen wird. Dann wäre es nämlich zu spät, da noch Struktur hineinzubringen.

Und nun?

Was wir aus all dem lernen können für unseren Einkauf von Lebensmitteln, nur weil dieser Blog ja „Führerschein für Einkaufswagen“ heißt: Ganz klar, wir müssen die Weidehalter unterstützen, von denen wir deutlich mehr bräuchten, als wir derzeit haben. Also Weidemilch kaufen oder wenigstens Milch und Käse und Joghurt von den Bioverbänden, die ihren Tierhaltern Weidegang vorschreiben.

Hilft das, mit dem Wolf umzugehen? Es hilft wenigstens, das Thema aktuell zu halten und nicht einfach nur auf den nächsten Riss zu warten. Es geht darum, dass wir uns gesellschaftspolitisch klar darüber werden, was wir tun wollen. Wenn wir tatsächlich für mehr Tierwohl sind, wenn die Tiere raus sollen aus den Ställen, nicht nur wegen es Tierwohls, auch um die Krise der Biodiversität zu bekämpfen, das Insektensterben aufzuhalten und im Klimaschutz zu arbeiten, dann können wir nicht gleichzeitig gegen alles sein, was auch nur im Entferntesten wie das viel zitierte und nirgendwo durchgeführte „Wolfsmanagement“ aussieht. Einfach laufen lassen, Laissez-faire ist wohl nicht die richtige Wahl beim Umgang mit dem zurückgekehrten Raubtier.

Letzte Meldung

Und die Zeit, uns unseren Umgang mit dem Wolf klarzumachen, sie drängt. Die letzte Meldung aus Brandenburg: Im Kreis Uckermark hat ein Wolf zwei Kälber in einem Stall gerissen. „Wenn Zäune und neuerdings nicht mal mehr Ställe ausreichen, wie soll man seine Tiere dann noch schützen“, fragt der betroffene Landwirt aus Menkin. Zwei Mal sei „dieses neuartige Verhalten“ in diesem Jahr auch in Mecklenburg-Vorpommern zu beklagen gewesen, sagte eine Sprecherin des Landwirtschaftsministeriums in Schwerin.